Im Spiegel

Du sitzt in einem fremden Raum,
Hier ist es warm, aber dir ist kalt,
Der Fernseher läuft, doch du bemerkst ihn kaum,
Du hoffst, deine Mama findet dich bald.

Dann geht die Tür auf, eine Frau kommt herein,
Sie sagt, es gibt jetzt Essen,
Du sagst, das muss ein Missverständnis sein,
Aber warum, hast du gerade vergessen.

Die Frau bringt dich in einen großen Saal,
Hier sitzen viele fremde Leute,
Viele sind ergraut, manche sogar kahl,
Und du siehst alle zum ersten Mal heute.

Man setzt dich an einen der vielen Tische,
Hier sitzen schon andere von den Grauen,
In einem Aquarium schwimmen bunte Fische,
Die wie die Menschen vor sich hin nur schauen.

Du rührst nichts an, was man vor dich stellt,
Du bringst hier einfach nichts herunter,
Du willst nach Hause, raus aus dieser Welt,
Doch das geht hier völlig unter.

Wieder zurück in dem fremden Zimmer,
Setzt man dich in einen Sessel vor dem TV,
Du vermisst deine Mama noch immer,
Im Fernsehen läuft die Tagesschau.

Dann kommt wieder die fremde Frau,
Sagt, dass du jetzt ins Bett gehörst,
Du willst jetzt nach Hause, weißt das ganz genau,
Hast das Gefühl, dass du hier nur störst.

Doch die Frau sagt, dass du hier wohnst,
Und das schon eine lange Zeit,
Und egal wie sehr du es auch betonst,
Macht sie dich für die Nacht bereit.

Sie gibt dir Tabletten, die du nehmen musst,
Und du weißt nicht wogegen,
Sie sagt, dass die Medizin deinen Schlaf beeinflusst,
Und du sollst dich jetzt einfach hinlegen.

Dann liegst du da, in einem fremden Bett,
Starrst im Dunkeln an eine fremde Decke,
Deine Verwirrung ist jetzt ganz komplett,
Und sitzt zitternd in der Zimmerecke.

Wo ist deine Mama bloß,
Warum ließ sie dich zurück,
Wo ist ihr schützend warmer Schoß,
Nur sie fehlt dir zu deinem Glück.

Am nächsten Morgen wirst du wach,
In einem feuchten Bett,
Du schämst dich, ob der großen Schmach,
Doch die fremde Frau ist trotzdem nett.

Sie macht dich sauber, zieht das Bett ab,
Sagt, dass dich deine Kinder heute besuchen kommen,
Du rutschst vorsichtig vom Bett hinab,
Bist wieder verwirrt und ganz benommen.

Du fragst, wo deine Frau wohl ist,
Du hast sie seit gestern nicht gesehen,
die Frau sagt, dass du sie schon seit Jahren vermisst,
Dass sie tot sein soll, kannst du nicht verstehen.

Am Nachmittag kommen deine Kinder zu dir,
Du erkennst sie nicht, aber sie dich,
Du fragst sie: "Warum bin ich hier?",
"Warum wollt ihr mich denn nicht?".

Sie drucksen herum, antworten nicht,
Müssen sich auch schon wieder verabschieden,
Dir laufen Tränen übers Gesicht,
Fühlst dich verraten und gemieden.

Du sagst, sie sollen ihre Mama schön grüßen,
Sie schauen dich nur mitleidig an,
Du fühlst dich, als müsstest du für etwas büßen,
Erinnerst dich irgendwie nur nicht daran.

So vergehen deine Tage hier,
Von Qual bis zum bittersüßen Vergessen,
Wie mit einem Kind sprechen sie mit dir,
Siehst einen Greis im Spiegel stattdessen.

So stelle ich mir Demenz vor.
Ich vermute, dass sich einige alte Menschen so fühlen.


©Thorsten Trautmann

Ibbenbüren, 14.12.2025

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